Odagsen

Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung e.V. Ausgabe März 2018. Da ich noch zwei Jahre (1972-1974) in die Dorfschule hier in Odagsen gegangen bin, erkenne ich einiges was hier beschrieben wird wieder. Es ist ein interessanter Blick in vergangene Zeiten:

Die Anfänge des Schulwesens im Solling liegen im 18. Jahrhundert. Im damaligen Kurfürstentum Hannover ging die Initiative zur Abhaltung von Unterricht in der Regel nicht vom Staat aus, sondern oft von Privatpersonen ‚die sich am Unterhalt der sogenannten Winkelschulen beteiligten. Ein Beispiel aus der Region ist der Freiherr von Eckardstein, ‚der ab 1779 die Spiegelglashütte Amelith" aufbaute. Er forderte Schulunterricht für die "Kinder seiner Spiegelglasmacher, „damit “sie dereinst dem Vaterlande nicht unnütz und zur Last sind“.? In Hannover stand man solchen Initiativen nicht generell ablehnend gegenüber, scheute aber die laufenden Kosten, die mit der Anstellung eines Schulmeisters verbunden waren. In Amelith waren die Bemühungen des Freiherrn von Eckardstein letztendlich nur erfolgreich, weil er an die Regierung schrieb: „Gern will ich zum Unterhalt des Lehrers beitragen was in meinen Kräften steht. Ich will ihm freie Wohnung nebst einem Garten geben und dahin sehen, dass die Eltern das Schulgeld richtig bezahlen.

Die Bezahlung des Lehrers blieb noch lange ein Problem. 1846 verdiente ein Lehrer 102 Taler im Jahr und musste dafür bis zu 120 Schüler gleichzeitig unterrichten. Dazu kam noch das Schulgeld, das die Eltern zu zahlen hatten. Im armen Solling konnten viele Eltern dieses Schulgeld nicht oder nicht vollständig aufbringen, so dass die Einnahmen des Lehrers schrumpften. In vielen kleinen Dörfern gab es zudem nur wenige Schüler, und der Lehrer konnte nur wenig Schulgeld einnehmen und war auf einen Zuverdienst angewiesen.

In Eschershausen unterrichtete der Lehrer vom Webstuhl aus, und der Schulmeister Kleine in Silberborn betätigte sich nebenbei als Tischler und band Bürsten sowie Bücher. Alle Dorfschullehrer waren früher auch Nebenerwerbslandwirte. Die Gemeinde stellte ihnen das „Schulland“ und die „Schulwiese“ zur Verfügung, die sie bewirtschaften konnten. Hinzu kam meist noch die freie Nutzung des „Schulgartens“ und freies Brennholz. In sehr armen Dörfern stand dem Lehrer noch das sogenannte „Reiheessen“ zu. Das heißt, er ging der Reihe nach Tag für Tag zu einer anderen Familie und bekam dort ein Mittagessen.

Unter solch schwierigen finanziellen Verhältnissen war es nicht leicht die Lehrerstellen zu besetzen und dadurch möglichst vielen Kindern einen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Erste Schritte zur Veränderung dieses Zustands unternahm 1717 der preußische König Friedrich Wilhelm I (Der Soldatenkönig). Er verfügte, dass die Kinder auf den königlichen Gütern vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr Schulunterricht erhalten sollten. Es waren wohl zwei Überlegungen, die diesen kühl rechnenden Monarchen zu diesem Schritt veranlassten. Zum einen wollte er seine „invalid geschossenen Soldaten“ als Lehrer einsetzen und ihnen so eine Altersversorgung verschaffen. Zum anderen bewogen ihn aber auch Gedanken dazu, die heute wieder ganz modern sind. Brandenburg-Preußen verspottete man damals als „die Streusanddose des Reiches“ und tatsächlich war dem König bewusst, dass sein Land über keine nennenswerten Bodenschätze verfügte und auch die Landwirtschaft mit den damaligen Methoden auf den sandigen Böden keine Höchstleistungen erzielen konnte. Deshalb wollte er in den „Witz und Verstand seiner Untertanen“ -— oder wie wir heute sagen würden, in die Köpfe der Menschen investieren.

Friedrich Il. (gen. Der Große) setzte die Schulpolitikseines Vaters fort und erließ am 12. August 1763 ein Generallandschulreglement und damit die erste für ganz Preußen gültige Schulordnung. Das Generallandschulreglement beförderte die Entwicklung der Volksschule und verhalf schließlich der allgemeinen Schulpflicht in Deutschland zum Durchbruch. Es gilt heute als das wichtigste Schulreglement des 18. Jahrhunderts.  Die Schulpflicht wurde auf acht Jahre festgelegt, das Schulgeld auf sechs Pfennige; dazu wurde erstmals ein allgemein gültiger Lehrplan erstellt. Die Schüler sollten Lesen und Schreiben lernen, beten und Kirchenlieder singen. Der Unterrichtsollte aus jeweils drei Stunden am Vormittag und am Nachmittag bestehen. Außerdem definierte das Reglement gewisse Anforderungen an die Lehrer. Nur diejenigen sollten eine Stelle bekommen, „welche in dem kurmärkischen Küster- und Schulseminario zu Berlin [...] die eingeführte Methode des Schulhaltens gefasst haben“.

 Die Schulen waren zu dieser Zeit auch in Preußen noch fest in der Hand der Kirche, denn die Schulaufsicht lag beim Pfarrer. Erst im 1794 verabschiedeten Allgemeinen Landrecht heißt es: „Die Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates.“

Im Kurfürstentum, später Königreich Hannover, hingegen konnte sich die Schule nie aus der Dominanz der Kirche befreien. Auch nachdem hier 1846 endlich ebenfalls die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden war, behielt die Kirche ihre beherrschende Stellung im Schulwesen. Das drückte sich häufig sogar darin aus, dass in kleinen Orten der Schulraum und die Räumlichkeiten für den Gottesdienst unter einem Dach untergebracht waren. Im Unterricht standen vor allem religiöse Themen im Mittelpunkt und die Schüler im Solling lernten etliche Kirchenlieder und Bibelzitate auswendig. Insgesamt war man in Hannover der Meinung, dass der Unterricht nicht zu theoretisch sein sollte. Die Lehrer waren angehalten, die Lehrinhalte an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten und ihnen praktische Fähigkeiten zu vermitteln, die sie im späteren Leben gebrauchen konnten. Ausdrücklich erwünscht waren deshalb auch Ausflüge in die nähere Umgebung. Damit sollte die Liebe der Kinder zur Heimat geweckt und ihnen ein hannoversches Nationalbewusstsein eingepflanzt werden.

Als das Königreich Hannover vor 152 Jahren, “nach der Schlacht bei Langensalza im Juni 1866 unterging, kamen die Preußen ins Land und revidierten auch das hannoversche Schulsystem. Ordnung und Disziplin sollten nun auch in die Schulen des Sollings einziehen. Es ging zu wie auf dem Kasernenhof. - „Aufstehen!“ - „Setzen!“ - „Vortreten!“: Das waren die Kommandos, auf die die ‘Schüler im Gleichtakt reagieren sollten. In der Ausbildung war damals gefordert, „dass ein einziger Wink des Lehrers ausreichen muss, um die gesamte Schulordnung schlagartig wieder herzustellen“'° Für die Jungen sollte die Volksschule eine Vorstufe zur Militärzeit sein. Es galt die Meinung, dass schon den Kindern Gehorsam beigebracht werden müsse, damit der Soldat später seinem Offizier und die Ehefrau ihrem Mann ohne Widerspruch gehorchte. Das Militär drängte auch vehement auf die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht. Nicht wegen besonders gebildeter Soldaten, sondern wegen gesunder Rekruten. Wie ist das zu erklären?

Bei den Musterungen stellte sich oft heraus, dass die jungen Männer untauglich waren, weil sie als kleine Kinder schon schwer gearbeitet und sich bereits früh die Gesundheit ruiniert hatten. Das Militär drängte nun auf ein Verbot der Kinderarbeit und wollte die Kinder in der Schule gewissermaßen „in Sicherheit bringen“, damit sie zu Hause nicht mehr so schwer arbeiteten.

Da die Arbeitskraft der Kinder, besonders in den ärmeren Familien, nicht zu ersetzen war, blieb der regelmäßige Schulbesuch in manchen Familien bis ins 20. Jahrhundert ein Problem. Im Winter waren die Klassen meist besser gefüllt als im Sommer, denn im Winter fielen in der Landwirtschaft nicht so viele Arbeiten an und es konnte eher auf die Mithilfe der Kinder verzichtet werden. Häufig fehlte jedoch bei den Eltern die Einsicht zur Notwendigkeit einer Schulbildung für ihre Kinder. Vielfach war man der Meinung, dass ein Bauer oder Hirte nicht Lesen und Schreiben können müsse. Da man sich für seine Kinder aber keine anderen Berufe vorstellen konnte, hielt man auch den Unterricht für Zeitverschwendung. Die Hausaufgaben mussten am Küchentisch erledigt werden, und da der Bildungstand der Eltern auch nicht gerade hoch war, konnten sie ihren Kindern wenig helfen. Vom Herd aus trieb die Mutter die Kinder zudem zur Eile an, denn die Arbeiten im Stall und auf dem Feld warteten und mussten erledigt werden.

Viele Kinder gingen in dieser Zeit meist nicht mit Vorfreude zur Schule, sondern schlichen eher mit Angst im Bauch ins Klassenzimmer. Wanderungen im Sommer und gemeinsame Rodelausflüge im Winter unterbrachen zwar hin und wieder den Schulalltag auf erfreuliche Weise, aber der Lehrer war trotzdem eine furchteinflößende Respektsperson. Der Rohrstock war damals das wichtigste Hand werkszeug des Schulmeisters. Er benutzte Ihn als Zeigestock, mit ihm gab der Lehrer den Takt beim Aufsagen vor und er diente ihm als Züchtigungsinstrument.

Schläge und regelrechte Misshandlungen blieben auch nach dem Untergang des Kaiserreichs das wichtigste pädagogische Mittel in den Schulen. Im Dritten Reich passten sich die meisten Lehrer geschmeidig den neuen Gegebenheiten an oder waren sogar selbst überzeugte Nationalsozialisten. Neben der Hitlerjugend kam der Schule eine zentrale Rolle bei der Erziehung der Kinder im nationalsozialistischen Sinne zu.

Die Lehrer stachelten ihre Schützlinge an, Juden und Andersdenkende auszugrenzen und zu beschimpfen. Die nationalsozialistische Ideologie erhielt außerdem Einzug in die Schulbücher. Dabei blieb kein Fach ohne diesen Einfluss. Viele Lehrer, die schon in der Zeit des Nationalsozialismus Dienst getan hatten, übten ihre Tätigkeit auch nach dem Krieg weiter aus - und änderten nicht viel an ihren eingeübten Lehrmethoden. Erst ab den 1960er Jahren kam langsam Bewegung in den Schullalltag. Die alten Lehrer erreichten das Pensionsalter und junge Kolleginnen und Kollegen brachten frischen Wind in die Klassenräume. Nach diesen ersten Veränderungen folgte in den 1970er Jahren ein regelrechter Umbruch. Das Schlagen der Kinder war nun nicht mehr erlaubt, und die Lehrer waren in sozialen Belangen gut ausgebildete Pädagogen. Die Hausaufgaben erledigte man häufig immer noch am Küchentisch, aber jetzt warteten meist nicht mehr Aufgaben in Haus und Hof auf die Kinder, sondern die Freundinnen und Freunde, mit denen man den Nachmittag verbrachte. Vor allem die Jungen saßen bei den Schulaufgaben schon auf heißen Kohlen, weil die Fußballkameraden warteten. Die Schule entwickelte sich für die Kinder von einer gefürchteten „Strafanstalt“ zu einem sozialen Treffpunkt, wo neben dem Unterricht auch der Kontakt mit Gleichaltrigen eine große Rolle spielte.

Abschließend möchte ich einen kurzen Blick auf die heutige Grundschule werfen, die sich von der meiner und Ihrer Kindheit wiederum in vielerlei Hinsicht unterscheidet. Die pädagogischen Ansätze der Reformjahre wurden weiterentwickelt. Lernpsychologische Einflüsse und die verstärkte Betonung der kindlichen Rechte auf Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit haben zu veränderten Unterrichtsformen geführt. Die Schüler sollen mit Freude und Neugier lernen, angstfrei in die Schule gehen und sich motiviert dem Lernstoff zuwenden. Das zeigt sich schon am ersten Schultag: Eine Einschulungsfeier ist heute ein großes Happening, das mit vielen Familienangehörigen und Freunden gebührend gefeiert wird.

Neben den veränderten pädagogischen Grundwerten muss sich die Grundschule heutzutage auf eine stark veränderte Kindheit einstellen. Die Kinder sind zum einen häufig aufgrund täglicher Termine in ihrer Freizeit eingeschränkt. Schulbildung ist ein umfassendes Projekt geworden, an dem neben den Lehrern und Eltern oft auch Ärzte, Therapeuten, Übungsleiter und Ämter mitwirken. Zum anderen wachsen die Kinder in einer über die Maßen vom Medienkonsum geprägten Umwelt auf. Computer, Handy und Fernseher sind aus den Wohnungen nicht mehr wegzudenken und omnipräsent. Computer- oder Kinohelden sind die neuen Vorbilder.

In veränderten Familien- und Berufsstrukturen gibt es heute seltener Elternteile, die zu Hause arbeiten, Großeltern, die sich kümmern können oder Geschwister als Spielkameraden. Berufstätige Eltern haben wenig Zeit für ihre Sprösslinge. Solche Eltern, die ihren Kindern täglich vorlesen, mit ihnen singen und spielen, wandern und klettern, kochen und backen, bauen und werken,

sind Mangelware geworden. Kinder müssen deshalb vieles in der Schule lernen, was sie früher zu Hause gelernt haben. Dazu gehören vor allem Dinge, die den Umgang miteinander betreffen: Höflichkeit, Ordnung, freundlicher Umgang, Toleranz, Respekt, Pünktlichkeit, Körperhygiene, Tischsitten u.v.m. Kinder lernen wieder in sehr heterogenen Klassen. Die Altersunterschiede betragen bis zu drei Jahre. Die Kinder gehen oft bis zum Nachmittag zur Schule, essen dort zu Mittag und machen gemeinsam ihre „Haus“-Aufgaben.

Lehrer sind heute Allroundtalente, die dem Bewegungsdrang und den Konzentrationsschwierigkeiten der Kinder genauso begegnen müssen, wie teils zurückgehenden Lernkompetenzen, die sich z.B. in Lese-, Schreib- und Rechenschwächen zeigen. Mit kooperativen Lernformen und differenziertem Arbeitsmaterial werden die Methoden geöffnet und die Unterrichtsinhalte individualisiert. Gleichzeitig haben sich die Inhalte verändert. Die Rechtschreibung und mit ihr das Schreiben von Diktaten wurde zugunsten mündlicher Sprachbildung zurückgedrängt. Das Erlernen einer Schreibschriftwird im Computerzeitalter vielerorts nicht mehr als unabdingbare Basiskompetenz angesehen. Gesundheits- und Gewaltprävention sowie Medienerziehung sind Elementare Unterrichtsthemen geworden.

In den letzten Jahren sind auf die Schule weitere Herausforderungen zugekommen, zu denen insbesondere die Inklusion und die Integration von Zuwanderern gehören. Hier sind wir erst auf dem Weg und vieles muss sich noch entwickeln. Die Arbeit bleibt spannend. Wir hoffen an allen Schulen auf die Unterstützung in der Gesellschaft und in der Politik. Denn die Grundbildung unserer Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nur gemeinsam zu meistern.

Dieser Beitrag wurde verfasst von Daniel Althaus und Sandra Rossel

Ralf Ahrens im Februar 2025

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