Deutschland in der Lutherzeit:
Politische Lage:
Im Westen befindet sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Dauerkonflikt mit dem christlichen Frankreich, dessen Herrscher sich nicht scheute, Bündnisse mit »dem Türken« gegen Kaiser Karl zu schließen. Im Osten lag das riesige Territorium der Jagiellonen-Dynastie, die in Personalunion die Oberhoheit über das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen innehatte. Dieses Gebiet war mehr als doppelt so groß wie Frankreich. Das 1525 aus dem Deutschordensstaat in ein Herzogtum umgewandelte Preußen mit der Hauptstadt Königsberg war ein polnisches Lehen.
Zwischen Frankreich im Westen, dem Jagiellonenreich im Osten, den drei skandinavischen Königtümern Dänemark, Norwegen und Schweden im Norden und dem von Franz und Karl umkämpften Oberitalien lag das deutsche Kerngebiet des Reichs mit schätzungsweise zwanzig Millionen Menschen und mit dem Gewimmel aus rund zweieinhalbtausend regionalen und lokalen territorialen Obrigkeiten, aus geistlichen und weltlichen Kurfürstentümern, Herzogtümern, Pfalz- und Markgrafschaften, Reichsstädten, Rittergütern, Erzbistümern, Bistümern und Klosterherrschaften. Die weit überwiegende Mehrzahl der Reichsstädte lag in dem vergleichsweise kleinen Gebiet zwischen Main und Donau, im Westen vom Rhein begrenzt, und mit Regensburg als einer der östlichsten Reichsstädte. Die größten Städte waren Köln, Augsburg und Nürnberg mit jeweils zwischen 40 000 und 50 000 Einwohnern, nicht zu verwechseln mit der sehr viel geringeren Zahl an Männern mit Bürgerrecht, das an Hausbesitz und Steuerpflicht geknüpft war.
Wie Küstenkonturen eine Herausforderung für Seefahrer und Meereskartografen waren, so waren Flussläufe eine für reisende Kaufleute, Wegbeschreiber und Landkartenzeichner. Noch ein halbes Jahrhundert nach der Deutschlandkarte in der Weltchronik lässt der Datensammler Sebastian Münster in der »Beschreibung Teutscher Nation« seiner Cosmographia die Spree direkt in die Ostsee münden statt in die Havel.
Die schiffbaren Flüsse hatten eine ähnliche Bedeutung wie die großen Handelsstraßen, über die auf Bollerwagen mit zum Teil noch speichenlosen Scheibenrädern die Waren von Messestadt zu Messestadt und von Marktfleck zu Marktfleck geschafft wurden. Eine Tagesleistung von zwanzig Kilometern war beachtlich, eine von dreißig nur selten erreichbar. Dabei mussten sich die Kaufleute im Wortsinn auf ihre Erfahrung verlassen, auf ihr Wegegedächtnis, gestützt durch eigene Aufzeichnungen. Wobei diese Kenntnis der Verkehrslage nicht nur den Verlauf, sondern auch den Zustand der Wege und Straße einbeziehen musste.
Das Recht auf die Wahl des Kaisers stand seit der Goldenen Bulle von 1356 den sieben Kurfürsten zu. Eine opulente Schautafel der schedelschen Weltchronik bildet sie ab mit ihren Wappen und Insignien. Auf der rechten Seite des Kaisers, der mit dem Reichszepter auf einem Thron sitzt genau wie in der Turmuhr der Frauenkirche, stehen die drei geistlichen Kurfürsten (die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier), auf der linken Seite die vier weltlichen Kurfürsten (der König von Böhmen, die Kurfürsten von der Pfalz, von Sachsen und von Brandenburg). Darunter folgen die Reihen der Herzöge, der Mark-, Land- und Burggrafen, der Freiherren und der Ritter. Für Bürger und Bauern ist auf dem Schaubild kein Platz.
Der soziale Platz der Ritter wiederum begann zu jener Zeit zu schwinden. In den seit 1489 bestehenden Kurien der sieben Wahlfürsten, im Rat der Reichsfürsten und in dem der Reichsstädte waren sie nicht vertreten. Gleichwohl übten die rund zweitausend Ritter die lokale Herrschaft aus.
Die etwa fünfzig geistlichen und dreißig weltlichen Fürsten in den Residenzen und die hundert Grafen in ihren Schlössern lebten in einer Sphäre außerhalb und jenseits des Alltags der Menschen auf dem Land. Der Kaiser selbst ließ sich im Reich mitunter jahrelang nicht blicken. Seine Herrschaft war eine in Bewegung: Er reiste in die Niederlande (zehn Mal), in die italienischen Städte (sieben Mal), in die spanischen Länder (sechs Mal), nach Frankreich (vier Mal), England (zwei Mal) und Nordafrika (zwei Mal). In Deutschland ist er neun Mal gewesen. Wenn er sich zu einem Reichstag mit gewaltigem Tross von Zeltlager zu Zeltlager bewegte und seine Prunkschiffe den Rhein hinaufziehen ließ, waren das keine Inspektionsreisen, sondern festliche Repräsentationen einer Macht, die nur zu Besuch war und von der es in den Dörfern allenfalls märchenhafte Vorstellungen gab.
Die Bauern auf den Feldern hatten keine abstrakten Reichsinstanzen über sich, sondern auf dem nächsten Hügel eine Ritterburg, dessen Besitzer sie persönlich kannten, persönlich fürchteten und dem sie gegebenenfalls, wie im Bauernkrieg, auch persönlich den Garaus machten. Die Ritter stützten sich unmittelbar auf ihre Waffengewalt, mochten bei etlichen die Burgen marode, die Harnische rostig und die Schwerter stumpf geworden sein. Sie erkannten weder die Fürsten in den Residenzen noch die Ratsleute in, den Städten, sondern nur den Kaiser als Oberherren an, eben deshalb, weil er weit weg war und ihnen gewöhnlich nicht ins Gehege kam.
Der größte Teil des Landes befand sich im Besitz der Kirche, der Fürsten und des übrigen Adels. Freie Bauern mit Besitz gab es nur wenige, etwa im Schwarzwald. Die Fürsten, allen voran die Kurfürsten, suchten aus ihren mitunter weit verstreuten Herrschaftsgebieten zusammenhängende Territorien zu machen und sie unter einheitliche Verwaltung zu stellen. Der Kampf gegen die lokalen Gewohnheiten, Rechte und Vorrechte wurde mit Bezug auf das römische Recht geführt. In allen deutschen Gegenden war dieses Recht deshalb gleichermaßen verhasst, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen.
Trotz der Entwicklung hin zu staatlichen Territorien wurde politische Macht als Familienmacht aufgefasst. Die Vererbung politischer Herrschaft bedurfte keiner Legitimation durch irgendeine Art von Regierungskompetenz aufseiten der Erbenden. Es wurde um Erbfolgen gestritten, es wurde um der Erbfolge willen geheiratet, und es wurden Kriege, auch Familienkriege, darum geführt. Aber die Erblichkeit von Herrschaft grundsätzlich infrage zu stellen, wäre - von wenigen Radikalen wie Thomas Müntzer oder den Täufersekten abgesehen — den meisten Menschen so realitätsfremd vorgekommen wie uns heute die Infragestellung der Erblichkeit von Vermögen.
Reisläufer und Landsknechte:
Als Prototyp des Söldners entwickelte sich seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts der Schweizer Reisläufer*. Diese Kämpfer, von Armut aus den Bergtälern getrieben, galten als tapfer und wegen ihres landsmannschaftlichen Zusammenhalts als nahezu unbesiegbar. Ausgerechnet ihre gegen Kaiser und Reich erkämpfte Selbstständigkeit machte sie bei reichsinternen Konflikten und Feldzügen für alle Seiten als Mietsoldaten brauchbar. In der jeweiligen Streitsache ohne eigenes politisches Interesse, gingen sie persönlich nur nach Sold und Beute. Sie kämpften in kaiserlichen Heeren, und sie kämpften gegen kaiserliche Heere. In der Schlacht von Pavia am 24. Februar 1525 zwischen dem französischen König Franz I. und Kaiser Karl V. kämpften auf französischer Seite 8000 Schweizer in einem Heer von 26 000 Mann. Franz verlor die Schlacht, wurde gefangen genommen, kam später wieder frei und führte weitere Kriege gegen den Kaiser. Knapp zwei Jahrzehnte nach Pavia warb er 18 000 Schweizer Reisläufer an.
Die erstmals im Auftrag Kaiser Maximilians zusammengestellten deutschen Landsknechtsheere mit Rekrutierungsgebieten in Bayern, Franken und Schwaben bauten auf den Erfahrungen der Schweizer auf. Die Heeresstärken waren mitunter beachtlich. Gegen Ende des Schmalkaldischen Krieges verfügte der Bund über rund 40 000 Knechte und 8000 Reiter. Das Heer des Kaisers hatte etwas über 30 000 Knechte und 5000 Reiter. Die Söldner wurden für einzelne Feldzüge angeheuert. Das galt nicht nur für das Fußvolk, sondern auch für Krieger aus dem Adel, die sich samt Pferden, Proviant, Waffen und eigenen Kontingenten an wechselnde Kriegsherren verdingten. Der gewöhnliche Sold eines einfachen Landsknechts war etwa doppelt so hoch wie der Verdienst eines städtischen Tagelöhners. Hinzu kam die Aussicht auf Schlachtsold und Beute. Der Extrasold nach einer gewonnenen Schlacht und nach dem Erstürmen einer Burg oder einer mauerbewehrten Stadt belief sich in der Regel auf einen Monatssold. Bei Zehntausenden von Kämpfern kamen schnell große Summen zusammen. Kein Wunder, dass die Kriegsherren und ihre Pfennigmeister die Zahlungen herunterzurechnen oder ganz wegzudiskutieren versuchten, etwa mit dem Argument, die Reiterei habe die Schlacht gewonnen und die Landsknechte seien nur hinterhergelaufen.
Aber diese Sparsamkeit am Mann war riskant, vor allem, wenn zwar die Schlacht, aber noch nicht der Krieg zu Ende war. Es konnte dann passieren, dass sich die Truppenteile ohne Extrasold weigerten, mit der Armee zu ziehen, und in den Feldlagern blieben. Es konnte aber auch zu offener Meuterei führen oder dazu, dass die Mannschaften in hellen Scharen davonliefen. Andererseits kann kein Sold ausbezahlt werden, wenn die Truhen leer sind. Das lag nicht immer an fehlenden Finanz-, sondern oft an fehlenden Transportmitteln. Das Geld musste in barer Münze in die Feldlager geschafft werden, was große Wagen, Dutzende von Zugpferden und Maultieren, Eisenkisten mit schweren Schlössern und etliche Mann Bedeckung erforderte. Schiffbare Flüsse erhöhten die Chance auf pünktliche Soldzahlungen.
Vielversprechender, wirklich sehr viel mehr versprechend, war die Aussicht aufs Beutemachen und Brandschatzen. Beim Beuten, beim »sackmann machen«, wie es im Fortunatus heißt, fielen die Söldner, und zwar keineswegs nur die Fußknechte, plündernd über Höfe, Dörfer und Städte her. Damit verglichen war das Brandschatzen eine geordnete Angelegenheit, die sich allerdings nur lohnte, wenn es auch etwas zu schätzen gab und nicht bloß halb verhungerte Bauern und abgewirtschaftete Handwerker zum Ausrauben.
Beim Brandschatzen wurde eine Stadt mit dem Anzünden bedroht, was bei der Holz-und-Stroh-Bauweise auch der meisten städtischen Häuser einer nahezu völligen Vernichtung gleichkam. Die Einwohner konnten das durch die Zahlung einer Brandsteuer abwenden. Die Höhe dieser Steuer hing davon ab, wie eigens abgestellte, häufig hochrangige Brand(schatz)meister die Wohlhabenheit der Stadt einschätzten. Die mithilfe der örtlichen Behörden eingetriebenen Gelder und Wertgegenstände wurden unter den Hauptleuten und den einfachen Söldnern nach bestimmten Schlüsseln verteilt. Es war darauf zu achten, dass die Landsknechte mindestens für die Beute entschädigt wurden, die ihnen durch die ausgesetzte Plünderung entging. Sonst drohten Meuterei und Beutemachen auf eigene Rechnung.
Zum Beuten auf eigene Faust durch gewöhnlichen Straßenraub sanken manche Landsknechte ab, die aus einem Feldzug zu wenig mit nach Hause brachten, um die Zeit bis zum nächsten Zug zu überstehen, oder die überhaupt kein Zuhause mehr hatten. Je älter und erfahrener ein Söldner war, desto leichter verdiente er in einem Feldzug, aber desto schwerer fiel es ihm, in das zivile Leben oder gar in das Handwerk, das er als junger Mann vielleicht einmal gelernt hatte, zurückzukehren. Die Horden beschäftigungslos im Land umherziehender Söldner beunruhigten die Zivilobrigkeit der gleichen Territorialherren, in deren militärischen Diensten sie gestanden hatten. »Der Krieg hat ein Loch« steht auf zeitgenössischen Drucken. Sie zeigen die ratlos herumlungernden Söldner, die darauf warten, dass irgendein Herr dieses Loch wieder stopft. Überall und von jedermann wurden die »gartenden Knechte‘, wie die heer- und herrenlosen Kriegsmänner sich nannten, als das bunte Gesindel beargwöhnt, das sie oft genug auch waren.
Betten
Betten waren kostbar. Selbst zarte Burgfräulein mussten mit hölzernen Schlafkisten in Mauernischen vorliebnehmen, und ihre Brüder wälzten sich von Kriegsträumen heimgesucht in Gurtbetten herum, so unbequem wie die im Feldlager. Die Besatzung in den Kasematten wiederum nahm mit Stroh vorlieb und war schon dankbar, wenn die Streu nicht schimmelte in den ewig feuchten Gewölben. Wer nachts einmal »rausmusste«, der musste wirklich hinaus, entweder auf einen abgelegenen Ort im Hof oder in einen Steinerker von dem das, wovon man sich »erleichterte<, die Mauer hinabrann.
Schlacht- und Haustiere
Luther hatte Mitleid mit Wild (Die armen Tierlein sind allen Gefahren ausgesetzt und haben viele Feinde«), aber nur, weil er das Fleisch nicht mochte: »Ich liebe die Sau mit ihrem Kind! Denn ein Schwein hat Wurst, Speck, Fleisch, was nährt. Die Bären im Torgauer Gehege waren Luther wohl egal, im Unterschied zu den frei laufenden Säuen in Wittenberg. Er fand es abscheulich, dass die Tiere, in die im Neuen Testament die von Jesus ausgetriebenen Teufel zu fahren pflegten, durch die Lücke in der Wittenberger Stadtmauer liefen, Bei seinen Beschwerden ging es Luther aber nicht um 'Teufelszeug, sondern ganz alltagspraktisch um die von den schweinischen Pendlern angerichtete Sauerei. Allerdings waren Straßen und Plätze, Höfe und Hinterhöfe, Gärten und Vorgärten der quasi natürliche Lebensraum für die von Menschen in der Stadt gehaltenen Tiere. Der Haushalt Luthers machte da keine Ausnahme. In einer Steuerliste des Jahres 1542 werden immerhin zehn Schweine (darunter drei Ferkel), fünf Kühe, neun Kälber und eine Ziege mit zwei Zicklein aufgeführt.
In vielen Städten strebte die Obrigkeit eine »Ent-Tierung« des menschlichen Wohn- und Lebensraums an. Wie, Ziegen. die bepflanzten Festungswälle in Wittenberg beschädigten, war Anfang der 1540er nur noch ein Tier pro Haushalt erlaubt. In der Reichsstadt Frankfurt suchte der Rat schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Schweinehaltung innerhalb der Stadtmauern, wo auf engstem Raum etwa 10000 Menschen lebten, mit einer Vorschrift zu beschränken, die den straßenseitigen Anbau von Schweineställen an die Häuser untersagte. Der Kampf um die Stadtsäue zog sich über Jahrzehnte hin. Noch 1521 musste der Rat das nun generell geltende Verbot der Schweinemast in der Innenstadt bekräftigen. Besonders zwischen den Stadtbäckern und der Stadtobrigkeit zog sich ein über Generationen währender Streit darüber hin, ob und wie viele Schweine die Bäcker trotz des allgemeinen Verbots halten durften. Sie konnten die Tiere mit Kleie und Abfällen mästen und waren selbst durch sich steigernde Geldstrafen nur schwer zu bewegen, auf ihr Vor- und Ausnahmerecht zu verzichten.
Die damalige »>Schweine-Physiognomie«, wenn es einmal so ausgedrückt werden darf, unterschied sich deutlich von derjenigen unserer dickleibigen Wohlstandssau. Bei Dürer sehen die Tiere beinahe wie Hunde aus, hochbeinig, mager, mit lang gestrecktem Kopf und über den Rücken laufendem Borstenkamm. Sie erreichten allenfalls ein Gewicht von 40, höchstens 5o Kilo. Heute liegt das Schlachtgewicht im Schnitt bei rund 100 Kilo. Das Schlachtgewicht ist nicht das Gewicht zum Zeitpunkt der Schlachtung, wie die Nichtmetzger vermutlich glauben und wie auch der Autor ursprünglich angenommen hat. Es handelt sich stattdessen um das Gewicht innerhalb der ersten 45 Minuten nach der Schlachtung, ohne Zunge, innere Organe, Gehirn etc. Das Lebendgewicht liegt um etwa 20 Kilo höher. Ein heutiges Mastschwein erreicht also dreimal mehr Lebendgewicht als eine Straßensau zur Lutherzeit. Ihr Fleisch war von den Unbilden des Stadtlebens gut durchtrainiert und zäh.
Die Rinder blieben weit unter der Größe und Schwere heutiger Rassen. Eine schlachtreife Kuh wog zu Luthers Zeit höchstens fünf Zentner, die Hälfte eines heutigen Mastrindes. Wenigstens konnte man bei einem Stadtrind sicher sein, dass es auch ein Mastrind war, keiner der muskulösen Zugochsen, die von betrügerischen Viehhändlern unter die Herden verteilt zum Markt getrieben wurden.
In den Jahrzehnten um 1500 gehörte das Bimmeln der Sauglocken und das Grunzen der Schweine genauso zu den »urbanen« Geräuschen wie das Wiehern der Pferde, Muhen der Kühe, Blöken der Schafe, Meckern der Ziegen und Gackern der Hühner. Die Verbannung des Milchviehs in Stallungen außerhalb der Stadt hätte Versorgungsprobleme aufgeworfen. Wenn Kühe und Ziegen draußen bleiben, muss die Milch irgendwie hereinkommen, und zwar bevor sie sauer wird. Bei den Pferden wiederum wäre die Vorschrift, sie jenseits der Stadtmauern unterzubringen, den Zeitgenossen so bizarr vorgekommen wie uns der Vorschlag, die Autos in Garagen jenseits der Stadtautobahn abzustellen.
So zäh der Kampf um die Ställe zwischen Obrigkeit und Bürger war, bei den herrenlosen Hunden griffen die Behörden durch. In vielen Städten, etwa in Köln, wurde einmal jährlich ein Hundefänger bestellt, auch Hundschläger oder Hundsleger genannt. Meist waren es Gehilfen des Henkers, die den Streunern den Garaus machten. Die Tierfänger erledigten die als unrein angesehene Arbeit Ende Juli, Anfang August. Dass diese heiße Zeit als »Hundstag«< bezeichnet wurde (und wird), hat jedoch nichts mit den armen Straßenkötern zu tun, wie manchmal behauptet wird. Der Ausdruck rührt vom Himmelkund her, vom Sternbild Canis Major, das in diesen Tagen, besser gesagt Nächten, am Firmament erscheint.
Das Handwerk:
Wer wo was zu tun (und zu lassen) hat, ist von elementarer Bedeutung für die Ordnung eines Sozialgefüges, das tatsächlich gefügt ist - von Gott, wie es gewöhnlich hieß, obwohl Menschen sich an dieser Ordnung eifrig zu schaffen machten, oder von der Natur ‚hinter der sich die Menschen so gern versteckten (und immer noch verstecken), wenn es um sozialen Rang und um soziale Rechte ging (und geht). Auf der Insel »Nirgendwo« in der Utopia des Thomas Morus »wird jeder im väterlichen Gewerbe unterwiesen; denn dazu neigen die meisten von Natur aus. Wenn aber einen seine Neigung zu etwas Anderem zieht, so wird er durch Adoption in eine Familie übernommen, die das Handwerk ausübt, zu dem es ihn treibt«. Im Übrigen ist das »utopische« Handwerkswesen überschaubar und auf das beschränkt, was der literarische Baumeister dieses Staatsgebildes für absolut notwendig hielt: »Außer der Landwirtschaft, die alle gemeinsam ausüben, erlernt jeder noch irgendein besonderes Handwerk; das ist in der Regel die Tuchmacherei, die Leineweberei oder das Maurer-, Schmiede-, Schlosser- oder Zimmermannsgewerbe. Es gibt nämlich sonst kein anderes Handwerk, das dort eine nennenswerte Anzahl von Menschen beschäftigte«, auch keine Schneider, denn die Kleider näht sich jede Familie selbst.
Vermutlich hätte Morus die Hände über dem Kopf (der ihm 1535 abgeschnitten wurde) zusammengeschlagen, hätte er von den 73 Handwerken (nicht Handwerker!) erfahren, die eine Nürnberger Ordnung von 1564 auflistet. Und von den Gewerken, die Albrecht Dürer im Entwurf einer Idealstadt in der »Befestigungslehre aufzählt und funktionell anordnet, wären ihm ebenfalls viele nicht utopietauglich erschienen. Dürer fasst Wagner, Sattler, Zaummacher zusammen, die Kürschner, Schuster, Seiler und Schneider sowie die Leineweber und Zeltmacher, außerdem Plattner (Harnischmacher), Haubenschmiede, Schlosser, Stechzeugmacher, Pfannenschmiede, Kesselmacher, Zinngießer und Nadler. Auch den Metzgern, Fleischhackern, Bäckern, Brauern und Barbieren werden die Betriebsorte in Dürers idealer Stadt so genau zugewiesen wie in der weniger idealen Wirklichkeit ihre sozialen Plätze.
Beim Status rangierten die Müller weit oben, obwohl der Text „Der Römisch-Kayserlichen Majestät Ordnung und Reformation guter Policey“, verabschiedet auf dem Augsburger Reichstag 1547/48, sie irritierenderweise in einem Atemzug mit Barbieren, Pfeiffern und »Trummetern« nennt, die künftig »wie andere redliche Handwercker« behandelt werden sollten. Vermutlich gab es Gegenden, in denen man den Müllern weniger traute als in anderen Regionen und es für eine böse Selbstverständlichkeit hielt, dass von dem Korn, das man in die Mühle hineintrug, nicht alles als Mehl auch wieder herauskam. Wenn der Müller bei jedem Mahlvorgang ein paar Handvoll Mehl für sich behält, kommen übers Jahr volle Säcke zusammen. Andererseits hatten viele von ihnen solchen Kleinbetrug nicht nötig. Der Müller (nicht sein Knecht) musste bereits ein »gemachter Mann« sein, um das technische Wunderwerk einer Mühle pachten und betreiben oder gar selbst errichten zu können. Der Grad der Ehrlichkeit des Müllers zu seiner bäuerischen Kundschaft stand wohl im Verhältnis zum Grad seiner eigenen Abhängigkeit, etwa von einem adeligen Herrn, der besitzrechtlich über die Mühle verfügte und über das Privileg, dass die Bauern bei ihm mahlen lassen mussten.
Ist die Stellung des Müllers nicht immer einfach abzuschätzen, so geht das mit jener des Schusters ganz leicht: Er steht in Stadt und Land am untersten Ende der Skala, auf ähnlicher Stufe wie der Leineweber und nur wenig über dem Barbier.
Dass Mehl aus den Mühlen kommt, wissen Alle. Aber Draht? Draht für Näh- und Stricknadeln, für Ringe, Haken, Stifte und Ösen, für Saiten und Ketten, für Siebe und Mausefallen. In und um Nürnberg hat es dreißig wassergetriebene Drahtziehmühlen gegeben. Die heute bekannteste, weil künstlerisch wertvollste ist die ehemals westlich vor der Stadt an der Pegnitz gelegene, von Dürer in Wasserfarben »porträtierte« Drahtziehmühle: »trothzichmüll« hat er auf das Blatt geschrieben. Der dargestellten Mühle ist ihre Funktion nicht anzusehen. Das Mühlrad befindet sich auf der uns Betrachtern abgewandten Seite der Gebäude und die Ziehapparatur in deren Innerem. Im Übrigen irritiert ein gewaltiger, torhoher Mühlstein, der recht augenfällig, nahezu aufdringlich an eine Außenwand gelehnt ist. Sollte er andeuten, dass in der »trothzichmüll« früher ebenfalls Mehl gemahlen wurde?
Nicht nur Müller und Drahtzieher machten sich die meist mehrrädrigen Mühlen zunutze. Für die Zeit um 1500 wird allein die Zahl der Papiermühlen in den deutschen Gebieten auf rund sechzig geschätzt. Häufig war dem Privileg zum Betreiben einer Papiermühle ein lokaler Bereich zugeordnet, in dem die Lumpensammler nur im Auftrag der jeweils privilegierten Mühle umherziehen durften. Die Hadern (Lumpen, textile Abfälle, verschlissene Kleidungsstücke) Lumpen mussten zerrissen und zerstampft, gewässert, geweicht und gerührt werden. In die Drahtsiebe, mit denen das Hadernpapier aus der Brühe geschöpft wurde, waren Wasserzeichen geflochten. Wären die Lumpensammler nicht über die Dörfer und durch die Städte gezogen, hätten die Druckerpressen aus Papiermangel stillgestanden und sich Luthers Schriften nicht in ganz Deutschland verbreitet. So gesehen sind die Lumpensammler »schuld« an der Reformation.
Neben den Getreide-, Draht- und Papiermühlen gab es Pulver und Tuchmühlen, sowie Hammer- und Walzmühlen für die Herstellung von Metallteilen und Blechen. Sie alle wurden mit Wasser-, nur selten wie die Mahlmühlen mit Windkraft betrieben. Wasser war neben menschlicher und tierischer Muskelkraft die wichtigste Energiequelle. Dabei war die Frage der Kraftübertragung von allergrößter Bedeutung, beim Bewegen einer kleinen Töpferscheibe wie beim Ingangsetzen der imposanten Riemenräderwerke der Mühlenhämmer. In Aachen wurden die Mühlenhämmer 1510 verboten. Die Tagesproduktion einer Werkstatt mit solchen Hämmern war hundertmal höher als die einer traditionellen Handwerkstatt. Behördlich verhindern ließen sich die Anlagen nicht, vielmehr schädigte die Stadt auf diese Weise ihr Gewerbe. Die Betriebe siedelten sich außerhalb des städtischen Rechtsgebietes an, vor allem in den stolbergischen Gebieten des Herzogs von Jülich. Das Aachener Hammerverbot sollte das städtische Handwerk und dessen Qualitätsprodukte gegen die billigere (und schlechtere) Massenware schützen rief jedoch auf mittlere Sicht die geschäftsschädigende kulivens Stolbergs hervor.
Ähnliche Konflikte gab es um die Montage von Tretbrettern an die Spinnräder. Herkömmlicherweise wurde die Spindel mit der Hand gedreht. Um 1530 kamen erstmals Tretbretter zum Einsatz. h Fußtritte bewegten das Brett auf und nieder, dass ein Rad drehte das wiederum die Spindel zum Drehen brachte. So ging der Kraft vom Fuß auf das Brett auf das Rad auf die Spindel. Die beeindruckt uns heute kaum, und doch handelte es sich um eine meisterliche Idee. Die Tretpedale jedenfalls waren vielen Zeitgenossen nicht geheuer. In Wuppertal wurden sie in den 1530ern verboten freilich ähnlich erfolglos wie zwei Jahrzehnte zuvor die Mühlenhämmer in Aachen.
Eisen im Feuer
Die Werke der Schmiede waren praktisch, weit verbreitet und vielfältig wie die Berufsfertigkeiten, die zu ihrer Herstellung nötig waren: die des Messerschmieds, Zirkelschmieds, Beckenschmieds und Messingschmieds, der die Gefäße machte — nicht die Kannen aus Zinn, die sind Sache des Kannengießers - und die Messingspiegel. Die Glasspiegel indessen stellte der »Spiegler« her. Der Büchsenschmied verfertigte Waffenläufe, der Plattner Harnische, der Sporer Reitsporen aus Stahl. Die Nagler und Nadler haben ihre Objekte schon im Namen, wie die Fingerhuter*, Sensenschmiede und Hufschmiede, die nebenbei noch als Rossdoktoren fungierten. Des Weiteren gab es Zimbelschmiede und Schellenmacher, Ring-, Zapfen- und Leuchtermacher, Schlosser und Wagner.
Bevor Kupfer und Eisen in die Schmiede kommen, muss man es aus dem Berg holen, was wieder mannigfaltige Kenntnisse voraussetzt und ebenso mannigfaltige Berufsvorrechte nach sich zieht. Die Entwicklung vom Rennwerk, der Schmelze im offenen Kasten unter Blasebalgluft, zu Hochofenbetrieb und Eisenguss schließlich führte in technischer Hinsicht weit weg vom alten Handwerk in die Frühzeit der Industrialisierung. Dem damit einhergehenden Energiebedarf entsprach der zur Übernutzung eskalierende schnelle Verbrauch langsam wachsender Ressourcen. Auch Wasserkraft ist nicht rohstoffneutral, schließlich war ein Mühlrad und die gesamte Mühle aus Holz. Zum Eisenschmelzen und -schmieden brauchte man Kohle, die wiederum aus Holzgewonnen wurde. Für einen Zentner Eisen verbrannten 15 Zentner Holzkohle.
Holz und Haus
In den Holzkohlemeilern, Schmelzhütten und Eisenschmieden verbrannten die Wälder, und abgeholzt standen sie in den Städten herum. Zwölf Eichenstämme vernutzten die Zimmerleute für den Ständerbau und den Dachstuhl eines gewöhnlichen Fachwerkhauses. Um den Dachstuhl einer normalen Kirche aufzimmern zu können, waren drei- bis vierhundert Stämme zu fällen. Für den 1494 eingeweihten »Dom zu Unserer Lieben Frau« in München (Frauenkirche) wurden in den zwanzig Jahren, die seine Errichtung dauerte, 20000 Stämme auf der Isar herangeflößt, nicht nur für den gewaltigen Dachstuhl des dreischiffigen, 109 Meter langen Backsteinbaus, sondern ebenfalls für Wand- und Turmgerüste und für die Baukräne. Das Kirchdach dominiert auch den München-Holzschnitt in der schedelschen Weltchronik, hier noch ohne die Hauben auf den beiden Türmen.
Wie die Chronik bei der Abbildung Kölns den unfertigen Dom zeigt mit einem Baukran, der aus der offenen Kirchenhalle ragt, so fallen bei der Darstellung Münchens die im Vordergrund am Ufer der Isar gestapelten Stämme auf und die vielen Flöße auf dem Fluss. Wenn es stimmt, dass in diesem monumentalen Gebäude - wie der Petersdom in Rom durch Ablassgelder mitfinanziert - 20000 Menschen stehen können, dann hätte jeder von ihnen gewissermaßen einen eigenen Stammbaum, über viele Jahre gewachsen und über viele Kilometer herangeschwommen.
Ohne Flößerei wäre die Versorgung der Städte mit Bauholz gar nicht möglich gewesen. Die alte Holztrift über kurze Strecken, bei der die Stämme allein die Flüsse hinabschwammen, konnte den Bedarf nicht mehr decken. Große Mengen zu triften war verlockend, aber auch riskant. Die Stadt Augsburg machte diese Erfahrung noch im Jahr 1550. Die Flößer rieten von einer großen Holztrift ab. Das harmonierte zwar auffällig mit ihrem Eigeninteresse, erwies sich aber --allerdings zu spät — dennoch als guter Rat, nachdem die Holzstämme den Rechen, der sie auffangen sollte, durchbrochen hatten und an Augsburg vorbei den Lech hinunter in die Donau schwammen.
Beim Flößen wurden die Stämme miteinander verbunden, Hindernisse in den Flüssen beseitigt und ebenfalls Holzrechen eingebaut, um die aus den Flößen gelösten Stämme wieder zu sammeln. Je mehr geflößt wurde, desto schneller schrumpften die Eichen- und Fichtenwälder. Nur die Buche streute weiter ihre Früchte vor die Säue, die man zur Mast in die Wälder trieb. Ihr Holz ist zu weich für eine tragende Rolle im Rahmen eines Fachwerkhauses oder als Schwenkarm eines Krans. Allenfalls für den Dachstuhl kommt es infrage, aber auch nur, wenn die Ziegel oder die Schieferplatten nicht zu schwer sind. Außerdem ist Buche nicht so weit flößbar wie die Nadelhölzer oder das Eichenholz. Es quillt auf und wird schwammig, wenn es lange im Wasser liegt.
Ein Fachwerkgebäude besteht aber nicht allein aus Balken. In den Fächern des Ständerbaus, dem statischen Skelett, verankerte man Geflechte aus Strauchruten und dünnen Ästen, die mit Strohlehm ausgekleidet wurden. Wie immer und überall hängen Material und Verarbeitung vom Budget des Bauherrn ab. Ein niedriges Häuslein in der Dorfstraße mit schmaler Eingangstür und unbehauenen Bohlen als Fußboden macht anders Figur als ein mehrstöckiger Renommierbau am Marktplatz der Stadt. Bei solchen Fachwerkhäusern gehörte das »Figurmachen« sogar im Wortsinn dazu: Ein im Jahr des Bauernkriegs errichtetes Haus am Großen Markt in Perleberg ist mit 13, immerhin jeweils 80 Zentimeter hohen Schnitzfiguren an den Knaggen geschmückt, also an den nach außen vorkragenden Tragebalken unter dem Dach. Das um 1521 erbaute Remensnider-Haus in Herford zeigt sogar 21 dieser Knaggenfiguren.
Machtverteilung
Wem gehört der Grund und Boden? Wem gehören die Menschen, die auf diesem Boden leben und arbeiten? Wer übt die Gerichtsbarkeit aus? Wer setzt Art und Höhe der Steuern fest? Wer bestimmt über Krieg und Frieden und darüber, wann wer für wen zu kämpfen gezwungen werden kann? Dies waren die wichtigsten Machtfragen, die auf verschiedene Weise beantwortet wurden. Ein Bauer konnte mit seiner Familie einem Herrn unterworfen sein, der sämtliche Rechte in sich vereinigte. Oder er war in jedem der Bereiche einem anderen Herrn untertan: Dem einen mussten für das Nutzungsrecht von Wiesen und Feldern Abgaben entrichtet werden, dem anderen war man bei Streitigkeiten und Straftaten ausgesetzt, wieder einem anderen gehörte man mit seinem Leib an. Wie die grundherrlichen, gerichtsherrlichen und leibherrlichen Abhängigkeiten verteilt waren, hing vom Machtgefüge innerhalb der Herrschaftsschicht ab, außerdem vom Machtverhältnis zwischen Stadt und Land und schließlich davon, wie stark die Übermacht der emporwachsenden Territorialfürsten bereits geworden war. Manche Bauern hatten überhaupt keinen Leibherrn, sondern waren ihrem Landesfürsten direkt abgabepflichtig, wie etwa Luthers Großvater dem Kurfürsten von Sachsen.
Ebenso wie die Machtverteilung in der Herrschaftsschicht wies die Besitz- und Rechtslage innerhalb der Bauernschaft große regionale Unterschiede auf. Es gab (wenige) wohlhabende bis reiche Bauern, solche mit mittleren Höfen und solche mit Kleinbesitz, außerdem die nicht mit vollen Rechten als Gemeindemitglieder ausgestatteten Hintersiedler mit wenig Besitz, dann die Büdner oder Häusler und schließlich die völlig besitzlosen Einlieger. Alle diese Menschen lebten in ihren verschiedenen herrschaftlichen Abhängigkeiten und zugleich in Abhängigkeitsverhältnissen untereinander. Zwischen dem wohlhabenden Bauern, der gleichwohl dem Edelmann sozial und rechtlich nicht gleichgestellt war, und dem ärmlichen Häusler, geschweige denn einem Einlieger, lag eine durch Solidarität nicht zu überbrückende Daseinskluft. Viel zu gegensätzlich waren die Einzelinteressen, Gesamtziele konnten nur vorübergehend und im Überschwang des Augenblicks formuliert werden.
Wer wie viel Druck auszuhalten hatte, hing von der Stellung in diesem Gefüge ab. Und auch, wann dieser Druck eben nicht mehr auszuhalten war. Ein Kleinbauer ballte die Faust in der Tasche und hielt sich mit kalter Sabotage beim Fronen schadlos, wenn die Abgaben stiegen. Aber es zog nicht gleich der Hunger ins Haus. Anders als beim Einlieger, der schon die kleinste Kostensteigerung, etwa bei der Miete, an dem ablesen konnte, was auf den Tisch — das heißt: eben nicht mehr auf den Tisch — kam. Der Druck der Landadeligen auf die Bauern hatte über Generationen zu einer Ausweitung der Herrschafts- und Besitzrechte geführt. Die rechtlichen und persönlichen Abhängigkeiten nahmen ebenso zu wie die Abgabe- und Arbeitspflichten. Des Weiteren gelang dem Adel die allmähliche Aneignung der Allmende, des vom Dorf gemeinschaftlich genutzten Weidelands, für die gutsherrliche Schafzucht. Und es wurde versucht, die erbliche Bodenpacht gegen Naturalabgaben und Arbeitsleistungen umzuwandeln in eine Pacht auf Zeit, die den Bauern als den tatsächlichen Bewirtschafter des Bodens völlig von diesem Boden getrennt hätte.
Ein Grund dafür, den Auspressungsdruck auf die Bauern zu erhöhen, waren die steigenden Kosten der Kriegsführung. Vom Landesherren, der Armeen zu besolden hatte, bis hinunter zum Ritter, der für eine eigene Fehde oder für einen fürstlichen Feldzug zehn Reiter ausrüstete, könnte man sagen, dass die gesamte aristokratische Herrschaftsschicht bei anwachsendem Finanzierungsbedarf in eine ebenfalls anwachsende Überschuldung geraten war. Man holt zwar Silber aus den Bergen, aber was der Bauer von den Feldern holte, blieb gewissermaßen der Materialgrund der Macht. Der wachsende Abgabendruck ließ bei den Bauern das Elend wachsen, aber bei den Herren wuchsen trotz der Schulden und mit ihnen Luxus und Verschwendung.
Zu den Hauptforderungen der Bauern gehörte die Abschaffung des Zehnten, manchmal auch nur die »gerechte« Senkung der Abgaben auf ein irgendwie als »christlich« empfundenes Maß, der Schutz der Allmende, die Beendigung des Rechtsmissbrauchs und der Rechtsbeugung durch die Gerichtsherren und schließlich die Abschaffung der Leibeigenschaft. Diese eigentümliche Unterwerfungsform, die einen Menschen persönlich völlig unfrei und doch nicht ganz zum Sklaven machte, hatte sich wie die Abgabenlast seit Generationen ausgeweitet. Immer mehr ursprünglich freie Bauern waren in die Leibeigenschaft hineingedrängt worden. Sie bezahlten den Schutz, den sie sich von einem Herrn versprachen, mit Gehorsam, Dienstpflicht und dem Eid, »unfluchtsam« zu sein, auf dem Boden ihres Herrn zu bleiben und nicht etwa in die Stadt zu laufen, deren Luft frei machte, obwohl sie nichtjedem gut bekam. Ein »freies« Leben als besitzloser Tagelöhner oder Hausknecht in der Stadt konnte sozial unsicherer und materiell erbärmlicher sein als das eines »gut gehaltenen« Leibeigenen auf einem Gut oder in einem Dorf. Dennoch strebten vor allem jüngere Leute vom Land in die Städte, was durch den Eid, nicht davonzulaufen und »leib und gut nit [zu] empfremden«, erschwert werden sollte. Der Unterschied zwischen dem Status als Freier und Leibeigener machte sich auf den Dörfern vor allem in Heiratssachen bemerkbar. Eine von einem Freien geheiratete Leibeigene wurde nicht etwa aus der Leibeigenschaft entlassen, sondern umgekehrt musste der Freie für die Heirat seinen Rechtsstatus aufgeben und sich mit einem Eid dem Leibherrn der Braut ergeben. Auch die Heirat zwischen Leibeigenen verschiedener Herren konnte Komplikationen mit sich bringen, abgesehen davon, dass solche Heiraten immer vom Leibherrn genehmigt werden mussten. Wollte eine Leibeigene den Leibeigenen eines anderen Herrn heiraten, war dies in manchen Regionen nur möglich, wenn sie sich dem Herrn ihres zukünftigen Gatten verschrieb. Dies setzte wiederum voraus, dass sie sich von vormaligen Leibherrn freikaufen konnte, entweder mit eigenem Erspartem oder mithilfe ihres Ehemannes oder auch mit einem Darlehen ihres künftigen Leibherrn. Der Freikauf von Frauen war in der Regel deutlich teurer als der von Männern, schließlich brachten | sie die Kinder zur Welt, die ebenfalls ihren Leibherren zufielen, jedenfalls, wenn es nicht anders geregelt war. Beispielweise teilte Urkunde aus dem Jahr 1543 über die Heirat zweier Leibeigener, die verschiedenen Herren angehörten den Besitz der aus dieser Ehe hervorgehenden Kinder abwechselnd den beiden Herrschaften zu. Das Verlangen nach Abschaffung der Leibeigenschaft fehlte in keiner Programmschrift der aufständischen Bauern.
Glaube an Gott und Hexenverfolgung
Der säkular lebende Agnostiker unserer Zeit gibt sich je nach momentaner Stimmungslage erleichtert oder frustriert damit zufrieden, zu wissen, dass er nicht weiß, ob es Gott gibt. Der Teufel jedoch ist für uns historisch längst erledigt, unabhängig davon, was wir über die Existenz Gottes zu glauben meinen, er ist nachgerade zu einer komischen Figur geworden, zu einer steinernen Fratze an gotischen Kathedralen oder zum humpelnden Bocksfuß in der Hexenfolklore.
Die meisten Menschen um 1500 dagegen waren von der Wirklichkeit Gottes so durchdrungen, dass ein Zweifel an seiner Existenz dem Bezweifeln der eigenen gleichgekommen wäre. Wer nicht an Gott glaubt, muss ihn auch nicht fürchten, allenfalls Mitmenschen, die den Unglauben nicht dulden wollen. Aber wenn die Existenz eines allmächtigen und ewigen Gottes vollkommen fraglos ist und man sich dennoch mit dem Teufel verbündet, wiederholt man den Aufstand des Engels Luzifer gegen Gott.
Die territorialen und kirchlichen Obrigkeiten, besonders nachdrücklich die protestantischen, suchten den magischen Volksglauben zu bekämpfen, indem sie die juristische Untersuchung von Zauberei und Hexerei intensivierten. Beides stand unter Strafe, auch dann, wenn sie nur insofern wirkten, als die Leute daran glaubten. Um 1500 wurden die Straftatbestände auf Wahrsagerei und Segensprecherei ausgeweitet. Von heute her betrachtet könnte man sagen, dass der Rationalität im Alltag mit irrationalen Mitteln im Strafrecht Bahn gebrochen werden sollte.! ’
Die strafrechtliche Ahndung der Zauberei erfolgte abgestuft: vom Schadenszauber ohne Folgen über den Schadenszauber mit Schäden, aber ohne »Teufelspakt« und »Teufelsbuhlschaft«, bis hin zur Zauberei mit einem Teufelspakt. Mit den Tatbeständen eskalierten die Strafen: von Pranger und Staupenschlag über den Landesverweis bis zur Verbrennung.
Im Jahr 1540 ließ der Wittenberger Landvogt eine Herumtreiberin mit Namen Prista Frühbottin verhaften. Ihr wurde vorgeworfen, unter Mithilfe ihres Sohnes und zweier Abdeckerknechte das Vieh auf den Weiden vergiftet zu haben, um an die Kadaver zu kommen. Die vier Angeklagten wurden zum Feuertod an Pfählen verurteilt. Die Zimmerleute, »so die vier seulenn und das Gerüste gemachet beydem Gerichte«, erhielten auf Kosten der Stadt »1 Faß Bier«, wie eine Kämmereirechnung akkurat dokumentiert. Die Delinquenten wurden nach Prozess und Folterung an den Eichenpfählen auf Querstangen gebunden und über darunter entzündeten Feuern langsam geröstet. Wir stehen um Fassung ringend in der Menge. Der Gestank verbrannten Menschenfleischs steigt uns in die Nase. Manche der Leute neben uns starren schweigend zu den Pfählen empor, andere johlen und finden alles einen großen Spaß. Nur gleichgültig lässt das Geschehen niemanden. Und niemand drängt sich angeekelt aus der Menge.
Betten
Der weitaus wichtigste Gegenstand in der »Schlafkammer« (in Bürgerhäusern eher als Gemach ausgestattet denn als Kammer) war das Bett, genau genommen die Bettstatt mit ihren zierenden Um- und Aufbauten. Sogar in einer Beschreibung des Fuggerhauses aus dem Jahr 1531 werden sie hervorgehoben: »Was soll ich von den weitläufigen und zierlichen Zimmern, den Stuben, Sälen und dem Kabinette des Herrn selbst sagen, welches sowohl wegen des vergoldeten Gehälks als der übrigen Zierraten und der nicht gemeinen Zierlichkeit seines Bettes das schönste ist.
Der von Folz erwähnte »Himmel« über dem Bett gehörte zur Standardausstattung des gehobenen Schlafzimmers. Ein Himmelbett brauchte Eisenstangen, um daran den schweren und kostbaren Atlas zu befestigen und an Querstangen die umlaufenden Vorhänge annesteln zu können. Für Kindbetten (nicht der Kinder, sondern der Gebärenden) gab es spezielle Vorhänge, wie der in einem Nürnberger Inventar von 15338 erwähnte »schwarze Kindbettfürhang mit 2 Eisenstengelein«. Dieser Vorhang lief nicht um das ganze freistehende Bett, sondern wurde als paraventähnliches Sichthindernis zwischen Bett und Tür aufgebaut. Die Frau in Wehen war dadurch vor den Blicken des eintretenden Mannes geschützt, der Mann aber auch vor dem erschütternden Anblick der gebärenden Frau.
Was Zeitreisende unter dem Himmel eines Bettes um 1500 vorfinden, dürfte für viele die Hölle sein. Der Strohsack war nicht etwa bloß Knechts- oder Mägdehabe, sondern gewöhnlicher Bestandteil nahezu jeder Schlafstelle. Auch Patrizierfräulein wussten nicht, wie sie sich sonst hätten betten sollen. In saturierten Haushalten waren die Strohsäcke gern umsäumt (häufig blau) oder verbrämt. In die »Kinderbettlein« kam entsprechend ein »Spreusäcklein«.
Die Strohsäcke lagen auf gezimmerten Gestellen oder auf Spannbetten aus Gurten oder Seilen. Die Strohsäcke waren, mitunter in mehreren Lagen, bedeckt mit Unterbetten, Leinenlaken und Kissen (Fußkissen, Lendenkissen, Bauchkissen, Kopfkissen). Die eigentlichen Bettdecken konnten aus Wolle sein, aus Pelz, Leder und Seide, oder - in seltenen Fällen — aus rechteckigen kissenartigen Bezügen, gefüllt mit Flaumfedern.
Die Ausstattung der Schlafstätten kann übertragen werden auf die »Faulbettlein«, deren Verschwinden der Herr einer von den Bauern geplünderten Burg beklagte*. Eigentlich waren die Faulbetten Ruheplätze für tagsüber, zum Beispiel in Gelehrtenstuben, und erfüllten die Funktion des Sofas, dem sich der Autor dieses Buches zum Schläfchen zwischen die Lederarme wirft, wenn der Kopf schwer wird von Gedanken. In manchen Haushalten dürfte sich aber der Unterschied zwischen dem Faulbett (ohne Himmel) und dem Schlafbett (mit Himmel) verwischt haben, sowohl was die alte undrücher FRIEN, sich über Küchenpapier been); ler fern, auf Holzspieße stecken, erst in Mehl, dann in Öl wälzen, über dem Feuer vorgrillen und schließlich in der Pfanne backen.
Festliche Tafeln, Essen und Trinken
Eine Tafel ist nichts weiter als ein Brett über Böcken, das aufgehoben und fortgetragen wird, sobald das Mahl vorüber ist. Das ist auf der Bauernhochzeit so und beim Fürstenmahl. Nur besteht im einen Fall die Tafel aus ungehobelten Brettern, im Freien auf Böcke gelegt, im anderen Fall aus feinen Hölzern, mit Tischteppichen verhängt, Schmuckborten umgrenzt und Tafelaufsätzen verschönt. Und im ersten Fall kommt das bei reichen Bauern nur bei seltenen Gelegenheiten vor, beispielsweise, wenn geheiratet oder begraben wird, und bei armen Bauern gar nicht, weil sie weder Bretter und Böcke besitzen noch Grund und Boden, wo sie sich aufstellen ließen. Die repräsentative Hoftafel dagegen wird so häufig aufgeschlagen, dass es schon lästig werden kann, besonders wenn die diplomatischen Verwicklungen zunehmen und die Kriegsgefahr wächst.
Das Verschwenden und das Beeindrucken durch Verschwendung kann schrecklich anstrengend sein, zumal man stets bedient wird und sich nicht selbst bedienen kann und bei diesen Schauessen immer jemand zusieht, wie der Stralsunder Reichstagsgesandte Bartholomäus Sastrow — beobachtet hat: »Ich habe den Kaiser auf verschiedenen Reichstagen essen sehen. [...] Das Essen wurde von einigen jungen Fürsten und Grafen aufgetragen. Jedes Mal wurden vier Gänge zu je sechs Gerichten vor ihm auf den Tisch gesetzt. Jetzt nahm man die Deckel nacheinander ab. Karl schüttelte den Kopf gegen die Gerichte, von denen er nichts begehrte. Aber wenn er von irgendeiner Speise zu essen wünschte, so nickte er mit dem Kopfe [...] Da kam es vor, dass er stattliche Pasteten und Wildpret oder schön zugerichtete Spanferkel wieder abtragen ließ und ein gebratenes Schweinchen oder einen Kalbskopf dabehielt. Er ließ sich nichts vorschneiden« - der Kaiser hatte ei die Macht, etwas selbst zu machen -, sondern Eh »von dem Ge FM er essen wollte, mit dem Kieser ein Stückchen ab [...], manchmal brauchte er auch seine Finger dazu. [...] Wenn er einen Trunk tun wollte [...] winkte er seinen Ärzten, die vor dem Tische standen. Die traten an den Schenktisch. Da standen zwei silberne Flaschen und ein kristallnes Glas. Das gossen sie aus beiden Flaschen voll.«
Derartige Beistelltische für Flaschen oder Schüsseln wurden auch in reichen bürgerlichen Haushalten bei repräsentativen »Geschäftsessen« benutzt. Das Verzeichnis des Nachlasses von Willibald Pirckheimer führt »i hültzenne Credenntz, darauf man das Silbergeschirr setzt, in ainem hültzen futter mit sambt ainem schwarzen leyntentuch darüber«, dem sogenannten Kredenztuch.
Die großen Tisch- und Tafeltücher waren in fürstlichen wie in hochbürgerlichen Häusern nicht nur praktische, sondern auch Prunkgegenstände: wegen ihres eigenen Material- und Herstellungswertes und wegen des mit ihrer Pflege verbundenen Aufwandes. Nürnberger Oberschichtfamilien besaßen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts an die drei Dutzend Tischdecken, im Nachlass einer Imhoff werden 1536 sogar dreizehn Dutzend gezählt.
Bei festlichen Anlässen waren die mit Decken belegten Tische zusätzlich mit Umlegetüchern geschmückt, schmale, sehr lange bortenverzierte Bahnen. Festgenestelt am Tischtuch und über die Tischkante gelegt, liefen sie um die ganze Tafel herum.
Reichtum äußert sich auch in dem, was auf den Tisch kommt, und damit sind eben nicht nur die Gerichte gemeint. Der Tagelöhner aß vom rohen Holz, der halbwegs situierte Handwerker legte den Zwehel auf, eine Art Platzdecke. Bei Prunkessen gab es Handtücher, meist um einiges größer als unsere heutigen Servietten. Auf Bildern von Gastmählern sind sie manchmal zu sehen, gefaltet über den Unterarm oder über die Schulter gelegt.
Während Kaiser Karl sich an einem dieser Tücher die Finger abwischte und darauf wartete, dass ihm ein Mundschenk den Pokal reichte, fuchtelten hinter ihm Possenreißer herum und machten Narren ihre Witze. Der Kaiser tat so, als bemerke er davon nichts, h und »lies sich auch nichts anfechten, dass viell da stunden, so den Kaiser essen sehen wollten.
Wie oft mag sich Karl nach einem dieser Schauessen mit abgewandtem Gesicht in der Nische erschöpft auf die Habsburger Lippe gebissen haben? Er gehörte zu denen, die das Herrschen höchstpersönlich genossen, geradezu auskosteten. Doch war selbst bei ihm das Hertschen nicht bloß Attribut des Herrschers, sondern der Herrscher mindestens ebenso das Attribut der Herrschaft, die er auszuüben und darzustellen hatte. Karls Gegenspieler Franz, der König von Frankreich, saß in Gestalt einer lebensgroßen und lebensechten Puppe noch dem eigenen Totenmahl vor.
Vom Leichenschmaus für Kardinal Albrecht ist uns die Speisefolge überliefert: gebratene Rehkeule, »Rhindt fles in einer brue«, Hecht im Speck, Hühner in gelber (mit Safran gefärbter) Brühe, »Pfeffer mit Wilpredt«, Krebs, »ein geil Weinbrue«, gebratenes Kalbfleisch, Hasen und Singvögel, zum Abschluss Käse und Gebäck. Zum »Pfeffer mit Wilpredt« wäre erläuternd anzufügen, dass mit diesem »Pfeffer« nicht nur das Gewürz selbst gemeint war, sondern eine dicke Soße, bestehend aus gekrümeltem Roggenbrot, Blut, Wein und Gewürzen, darunter Zimt und Pfeffer.
Das Roggenbrot war auch den Bauern nicht fremd, aber nicht zur Verdickung in Bratensoßen, sondern als Grundnahrungsmittel, vor allem in Mitteldeutschland, während in den fränkischen und bayerischen Gebieten Breie und Suppen jahraus, jahrein in die Holzteller kamen. Das Gesinde, die Tagelöhner und die Frondienste leistenden Bauern eines bei Nördlingen residierenden Reichsgrafen.
erhielten des »morgens ain Suppen oder gemues, ain millich den arbeittern, den andern ain suppen. — Des Mittags suppen und flaisch, ain kraut, in pfeffer oder eingemacht flaisch, ain gemues oder millich. [...] Des-Nachts: Suppen und flaisch, ruben und flaisch oder eingemacht aisch, ain gemues oder millich.« Der Graf bekam ein »voressen, äglich geendert. Alß von voglen, wildpret, wurst, Kalbskopf, kröß, gelung [Gekröse und Lunge], leber [...] Suppen des morgens offt eingeschnitten und flaisch, Henne [...] darain. — kraut und ruben resatten. So gut ochsen da sind ain stuck des flaisch. - Ain pfeffer, larjinn wildpret, Zungen«. Dazu jeden Tag ein anderes Gemüse, ei- ew metziget ain gesottenes Ochsenhirn und Lendenbraten. Das Leuteessen und die von bester Qualität vollstopft, dann lassen sie ihren Arbeitgeber* im genmehl und mit Gerste und Dinkel vorliebnahm. Für diejenigen, - * Der Anachronismus »Arbeitgeber« geht zulasten d Be A! stuck schweines prötlin«. Außerdem Reis, Gerste, Dinkel, Linsen, Herrenspeise sind einander ähnlicher, als man vermuten könnte, nur in der Menge und in der Variation der Zubereitungsarten unterscheiden sie sich deutlich.
Im Großen und Ganzen kann man für die »normalen« Leute sagen: Im Sommer stand man zwischen drei und vier Uhr auf, zum Frühstück gab es einen Teller Suppe oder einen Löffel Getreidebrei oder Erbsen und Bohnen. Eine erste Hauptmahlzeit folgte gegen zehn Uhr, eine Zwischenmahlzeit am frühen Nachmittag und das Abendessen (oder »Nachtessen.) gegen fünf. Bei Erasmus liest sich das so: »Beiden Deutschen [...] reicht kaum eine Stunde für das Frühstück und das Vesperbrot, mehr als anderthalb Stunden brauchen sie für das Mittagessen und über zwei Stunden für das Nachtessen, und wenn man sie nicht reichlich mit feinem Wein abfüllt und mit Fleisch und Fisch.
Stich und eilen in den Krieg.« Was hätten dazu wohl die Leute gesagt, die bei dem Nördlinger Reichsgrafen in Dienst standen?
Wann gegessen wurde, war nahezu überall gleich und hing vom Lauf und Licht des Tages ab. Was gegessen wurde, unterschied sich nach Regionen, nicht nur in der Frage Brot oder Brei. In Böhmen beispielsweise führten sich die Leute nach Auskunft des Scholaren Butzbach schon zum Frühstück Klöße und in Butter gebackene Eier zu Gemüte. Für die Zeit zwischen Mittag- und Abendessen berichtet er von Vesperbroten mit Käse und Milch. Nur in der Fastenzeit und freitags würde man auf Milchspeisen verzichten.
Von regionalen Unterschieden weitgehend unabhängig war das Gefälle zwischen Stadt und Land. Die auf dem Land erzeugten Produkte wurden in die Städte verkauft, das helle Weizenmehl beispielsweise, während man auf dem Land mit dem dunklen Rog- die nicht nur von der Hand in den Mund lebten, galt überall die Faustregel: In der Stadt isst man besser als auf dem Land. Sogar bei den Mäusen: »Die Stadtmaus bracht her brodt und weck, / Darnach bringt sie auch Käs und Speck, / Gut Eierkuchen, und viel mehr, / es Übersetzers;
Alternativ könnte man die Hühner auch nach einer handschriftlichen Rezeptsammlung kochen, die vermutlich um 1545 für die siebzehn- oder achtzehnjährige Philippine Welser zusammengestellt wurde. Die Hühner sind nach dem Zerlegen zunächst mit Kräutern und Weinbeeren zu kochen und dann im Teigmantel zu backen. Nach der Hälfte der Backzeit wird die Teigdecke geöffnet und »agerest« hineingegossen. Bei Agrest handelt es sich um den Saft unreifer grüner Weintrauben (heute meist als Verjus oder Grünsaft im Handel), nicht so scharf wie Essig und nicht so sauer wie Zitrone, aber gleichwohl aromatisch. Agrest war als Würzmittel in der mittelalterlichen Küche und auch noch im 16. Jahrhundert weit verbreitet. Es steht zu vermuten, dass häufig dieser Saft gemeint ist, wenn in zeitgenössischen Rezepten die »wurtz«, also ganz allgemein wird.
Der weitaus größte Teil der Bevölkerung, und zwar ausgerechnet derjenige, der mit seiner Arbeit für die Ernährung aller sorgte, hatte keine »Gewichtsprobleme«. Die »Feysten< - wenn es sich um höhere Herren handelte, vornehmer ausgedrückt: »die Starken« — fanden sich nicht auf dem Acker oder über Holzschüsseln mit Hirsebrei gebeugt in der Bauernküche, sondern in den Schlössern der Adeligen, in den patrizischen »Trinckstuben« der städtischen Rathäuser oder in den Schreibstuben der Gelehrten. Nicht alle Büchermenschen waren so mager wie Erasmus von Rotterdam oder Melanchthon - aber auch nicht alle so feist wie Luther gegen Ende seines Lebens. Sollten Zeitreisende gegenwärtige Vorsätze zum Abnehmen mit in die Vergangenheit nehmen, werden sie im »Krankenkochbuch« von Walther Rhyff auf zugleich höchst aktuelle und uralte Vorschläge stoßen. »Unmessige feyste ist eyn grosse hindernus und beschwernus des leibs in allen Dingen« heißt es im Kapitel über »Pflege und regierung deren, so zu fett und mast von leib seindt«. Denjenigen, die »von natur dazu geneigt«, wird geraten, dass sie »sich in # i : \ u Se i speis und tranck [...] solchermaßen halten sollen, damit sie solcher schweren bürden und heftigen überlasts entledigt werden«. Aber wie tut man das? Zuerst der älteste (und richtigste) diätetische Ratschlag der Menschheitsgeschichte: maßhalten! Zweitens: einmal die Woche fasten. Drittens: das Essen mit einer schnell sättigenden und den Appetit dämpfenden Vorspeise beginnen. Die Hauptgänge (wenn man schon nicht auf sie verzichten mag) sollten außerdem »nit dermassen anmutig und lieblich bereydt werden, daß wir gereytzet werden, desto mehr davon zu essen«. Fleisch ist zu meiden, besonders das von Rebhühnern, Fasanen und feisten Hennen. Keine Eier, keine Butter! Viel Obst! Keinen Rotwein trinken, nur dünnen, sauren Weißwein. Ansonsten viel frische Luft, wenig Schlaf und ein bisschen Aufregung - nur nicht zu viel. Was das Brot betrifft, das man »zu täglicher speiß braucht, so muss man mercken, daß Weytzenbrodt nit bequem, dann solichs gibt zu reichliche narung, sondern gerstenbrodt, das von den kleien nit so wol ausgebeutelt worden, das ist am allernützlichsten«. Kitas
Die Ernte
Jedes Korn, jede Ähre, jeder Halm war kostbar. Es musste gesät, geerntet, eingebracht, gedroschen, gelagert und die nächste Aussaat vorbereitet werden. Das Pflügen (oft mit Ochsen) dauerte lange, das Ernten war mühsam, das Dreschen körperliche Schwerstarbeit. Bei der eigentlichen Ernte kam es auf besondere Sorgfalt an: Arbeitszeit und Körnerzahl waren gegeneinander abzuwägen, zumal das Verhältnis zwischen Aussaat und Ernte bei etwa i zu 3 oder 4, in Ausnahmefällen bei i zu 10 lag (heute bei i zu 30). Die absoluten Erträge werden für Gerste auf 6 Doppelzentner pro Hektar geschätzt (heute 55), für Roggen auf 8 (heute 40) und Weizen auf 9 (70) Doppelzentner pro Hektar.
Je geringer der Ertrag, desto wichtiger jedes einzelne Korn. Je wichtiger jedes Korn, desto schädlicher die Erschütterung des Halms. Es stellte sich beispielsweise die Frage ob wie im mit der Sichel geschnitten oder als Neuerung mit der Sense gemäht werden sollte. Weil beim Sicheln die Halme festgehalten und kurz unterhalb der Ähren abgeschnitten wurden, waren die Erschütterungen geringer als beim Sensen. Es fielen weniger Körner aus den Ähren zu Boden. Dafür ging das Mähen mit der Sense wesentlich schneller vor sich, konnte (durfte) jedoch nicht von Frauen ausgeführt werden, auch nicht, wenn Not am Mann war.
Wenn der Halm auf dem Feld steht und ein Wetter heranzieht, auf welche Weise bringt man dann rechtzeitig die Ernte ein? Und wie verhält man sich, wenn gerade Sonntag ist? In katholischen Gegenden mit den vielen Sonn- und Feiertagen waren Ausnahmegenehmigungen üblich, damit der Bauer auch an solchen Tagen »zu einpringung seins heues, grumets [Herbstheu], korns, haberns [...] oder was seiner narung ist, gehen oder thun mog on ainig beschwerung seins gewissens«.
Die Bemerkung über das »schlechte Gewissen« ist wichtig. Aus ihr lässt sich schließen, dass die Landleute ohnehin auf die Felder liefen, wenn es nötig war, Sonntag hin, Ausnahmegenehmigung her. Wer weiß, dass auf dem Feld verfaulendes Getreide im Winter Hungerqualen bedeutet, nimmt die des Gewissens in Kauf. Und eben die wollte man den Leuten ersparen, die nicht aus Übermut an Sonn- und Feiertagen ernteten, sondern sozusagen aus Notwehr.
Außer dem Wetter (und den Wetterhexen) gab es zwei weitere große Gefahren für die Ernte: das Jagdwild und das Mutterkorn. Gegen das Jagdwild der Herrschaft war wenig auszurichten. Wer das Reh eines Grafen tötete, wurde selbst von den Henkern des Grafen getötet. Gegen das Mutterkorn war noch weniger Schutz möglich. Rehe konnte (und durfte) man verscheuchen, wenn man sich genug Leute aus dem Dorf leisten konnte, die tagsüber nicht arbeiteten, damit sie nachts wach blieben. Aber wie verscheucht man einen Pilz, der den Roggen befällt und der die Ernte ganzer Landstriche vernichten konnte? Das giftige Mutterkorn wurde auch bei Abtreibungen und zur Geburtshilfe verwendet. Fünf Gramm können bei einem Erwachsenen zum Kreislaufkollaps führen*. Eine Vergiftung löst Halluzinationen aus, die man nach den ” legendären Versuchungen des heiligen Antonius als »Antoniusfeuer« bezeichnete.
Wenn man das Korn glücklich geschnitten, gedroschen, in Säcke gefüllt, zum Müller gebracht und gemahlen hatte, war das Brot immer noch nicht gebacken. Der Ausmahlungsgrad, das Verhältnis zwischen Getreidegewicht und Brotgewicht, lag für Weizen bei 100 zu 86, bei Roggen nahezu i zu i*. Davon ausgehend, dass ein Kilo Roggenbrot aus rund 30000 Körnern besteht und eine Ähre rund 40 Körner und ein Hektar etwa 4000000 Ähren hat — wie viele Kilobrote können dann nach Adam Ries aus dem Ertrag eines - Hektars gebacken werden? Welche Schlussfolgerungen müssten wir daraus ziehen, wenn wir etwa Mitglied des Nürnberger Rates wären und uns Sorgen über Brotrevolten zu machen hätten? Es ist besser, man lässt städtische Kornspeicher bauen, als dass einem der aufgebrachte Pöbel die Warenspeicher plündert. Im Jahr 1538, die viele Regionen erfassende - große Hungersnot stand unmittelbar bevor, lagerten in den Nürnberger Speichern etwas über achteinhalb Millionen Liter Korn. Bei einem durchnittlichen Jahresverbrauch von 318 Litern pro Mund " und Magen hätten damit rund 27000 Menschen ein Jahr lang versorgt werden können.
Die Einlagerung war teuer. Die Speicher mussten gebaut und gewartet, das Korn gekauft und in die Stadt gebracht werden. Legt man einer Wagenladung durchschnittlich 1000 Liter zugrunde, lässt sich ausrechnen, wie viele Wagen von Pferden und Ochsen nach Nürnberg gezogen werden mussten, um die Speicher zu füllen: 8500.
Trotz des finanziellen und logistischen Aufwands, den die Versorgung der Stadtarmen in Notzeiten mit sich brachte, füllten selbst die »schildbürgerlichen« Lalen die Speicher, wie immer alles auf falsche Weise richtig machend: Es »steht ja einer hoch verstaendigen Oberkeit an, mit solchem Vorrhat verschen zusein, den Untertha- F* Siehe ee Abecha „Was ist ein Baer im 4. Kapitel * Es sind etwa 5300 Brote. Bei den Angaben sind heutige Ertragsverhältnisse zugrunde gelegt. Bei den fünfmal geringeren Hektarerträgen um 1500 wären es mithin nur etwas über 1000 Brote.
nen, so mangel eynfiele, zuhelffen und den Wucherern, die den Ar- _ men [...] nicht anderst als die Zecken auch das Blut auß dem Leyb, ja das Marg auß den Beynen saugen, jhre unzimliche unredliche Gewerbe abzustricken.« Dass der systematische Aufkauf des Ge- _ treides durch den Rat einer Stadt die Preise in der ländlichen Umgebung steigen ließ, gehörte zu den Problemen, mit denen sich die Zeitgenossen, auch Luther, unter dem Stichwort »Wucher« auseinandersetzten.
Versorgung mit Fleisch
Die Versorgung erfolgte aber nicht allein aus den Landgebieten um die Stadt und durch die Dörfer, die der Stadt zum Teil gehörten, sondern auch über den Fernhandel. Über einen der bedeutendsten Handelshäfen für Getreide verfügte die Ostseestadt Danzig. Es wurde aus dem riesigen Hinterland über die Weichsel herangebracht. In den 1530ern berichtete ein Zeitgenosse: »In den letzten 25 Jahren haben sie [die Großgrundbesitzer] herausgefunden, dass sie ihr Getreide flußabwärts nach Danzig verschiffen und dort verkaufen können. Dementsprechend sind das Königreich Polen und die großen Herren sehr reich geworden.«
Wie kommt das Fleisch in die Stadt Wer bringt es hin. Auf den eigenen Rippen. Manchmal kommen aber nur Haut und Knochen an. Die Rinder, die auf ’Triftwegen abseits der Straßen beispielsweise von Ungarn wochenlang nach Westen getrieben wurden, mussten in stadtnahen Mastgebieten erst wieder aufgefüttert werden, bevor man sie den Metzgern verkaufen konnte. Die Herden mit ein paar Dutzend bis zu einigen Hundert Tieren legten am Tag nur wenige Kilometer zurück, abhängig von der Gängigkeit des Geländes, vom Wetter, von der Lage einzelner Weidewiesen und von den. Möglichkeiten, die Herde zu tränken. Die Treiber, etwa ein Mann auf zwanzig Rinder, mussten ebenfalls versorgt werden, und entlang der über Jahrzehnte bewährten Triften wuchsen Schankwirtschaften und Gasthäuser empor. Zu einem der großen Umschlagplätze der Lutherzeit entwickelte “sich Buttstädt in Thüringen, so nahe bei Weimar gelegen, dass die Residenzstadt in einem Tagesritt erreichbar war. 1513 erhielt einer der Grafen Mansfeld von Kaiser Maximilian das Recht, in den beiden Wochen vor Michaelis (29. September) einen Ochsenmarkt abzuhalten. Die dort an mittel- und westdeutsche Händler verkauften Rinder stammten aus Polen und aus Brandenburg, hatten also 5 verglichen mit den Rindern aus Ungarn vergleichsweise kurze Triften hinter sich. Ebenfalls aus Polen sowie aus Pommern kamen die Rinder auf dem Wittenberger Weihnachtsmarkt. Was die Händler dort nicht verkaufen konnten, trieben sie weiter zur Neujahrsmesse nach Leipzig.
Ein anderer Umschlagplatz war Wedel bei Hamburg. Die dort gehandelten Rinder wurden von Jütland südwärts getrieben und waren bei ihrer Ankunft am Handelsplatz so dünn, dass der Markt von Wedel auch »magerer Markt« genannt wurde. Zeitreisende können heute die Ochsenwege um Wedel ohne Weiteres nachfahren. Die Radwege sind ausgeschildert.
Ob die Tiere zum Arbeiten oder zum Schlachten oder erst zum Arbeiten und dann zum Schlachten verwendet wurden, hing von ihrem Zustand und vom Fleischbedarf ab. Stiegen die Fleischpreise, konnten manche Stadtmetzger nicht widerstehen, der Kundschaft auch das zähe Fleisch eines alten Arbeitsochsen anzudrehen, obwohl das unter Strafe stand. Die Rinder trugen ihr Fleisch von Osten nach Westen und Schafe und Rindfleisch fuhr in Salzlake gelegt als Proviant auf Schiffen von Nordwesten nach Osten. Die Schiffer löschten Salzfässer (ohne Rindfleisch) in den Häfen der Ostsee und nahmen dafür Getreide an Bord. Nur bei Lalen wächst das Salz auf dem Acker: »Sintemal A Me auff dem Feld herfuer wachse: welchs dann darauß abzunemmen, dieweil das Saltz auch Koernlin habe.
Die Lalen säen Salz aufs Feld, und als es a ‚Einten geht, gewachsen sind Brennnesseln, stellt sich auch ihnen die Frage: Sicheln oder Sensen? Etliche beginnen zu sicheln, verbrennen« sich aber beim Festhalten der »Salzähren« die Hände. »Etlich waren der meinung, man sollte es abmaeyen wie das Graß: das widerriethen andre, dieweil zubesorgen, der Samen moechte vielleicht abfallen.« Es gelingt ihnen nicht, die Ernte einzubringen, und für keinen erfüllt sich die Hoffnung, »ein mechtiger Saltzherr« zu werden.
Im wirklichen Leben war das Salz nicht zu säen, sondern zu sie- den. Das wurde in riesigen Pfannen aus Eisenblech bewerkstelligt, deren Fläche manchmal an die 200 Quadratmeter betrug. Und bevor es in die Pfannen kam, musste es aus dem Berg geholt werden. In Halle wurden um 1500 jährlich rund 184000 Zentner abgebaut, in Schwäbisch Hall und Reichenhall ebenso viel.
Ströme von Schweiß wurden vergossen und ganze Wälder unter den Pfannen verbrannt, bis man ins Salzschüsselchen auf dem Tisch greifen oder die »Hönerbrue“ würzen konnte. Ganz abgesehen von den großen Mengen, die gebraucht wurden, um Nahrungsmittel haltbar zu machen: die Butter, den Hering“, den Stockfisch, ER ae Die Lalen hatten schon vom Rohrzucker gehört, deshalb glaubten sie, das Salz wachse ebenfalls auf den Feldern. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war Zucker ein unendlich weit entferntes unerreichbares Luxusgut, beispielsweise von den Welsern * Siehe das Rezept am Schluss des Abschnitts »Von bereytung der speis«. a »Geldleute« f, ’ hi IWEHRIR| Mi as ja) Su " f Mara auf Sklavenplantagen auf den Kanaren (von 1509 bis 1513) und Haiti (1530) erzeugt und an die europäischen Höfe geliefert. Dort fiel es _ dann vom Himmel, wie auf einem von Karls Schwester Maria 1549 ausgerichteten Fest: Vor den Augen der Gäste senkte sich eine Tafel von der Decke, geschmückt mit Figuren aus Zucker, während von einem künstlichen Sternenhimmel kandierte Früchte .herab- WEN regneten. Kaum eines der braunen Körnchen und nur wenige Tröpfchen des braunen Sirups gelangten in die Dorfküchen, vom weißen Zucker ganz zu schweigen, der nur durch aufwendige Entfärbeverfahren herzustellen war. Der Zuckerverbrauch lag selbst in Haushalten wie denen der Nürnberger Familie Tucher im Schnitt bei zwei Kilo pro Person im Jahr. Das ist in etwa ein Zwanzigstel des heutigen ‚Pro-Kopf-Verbrauchs« in Deutschland, aber für die damalige Zeit - war das eine ungeheure Menge. In normalen Haushalten, auch in den wohlhabenden, wurde mit Honig gesüßt. Um an die Waben zu kommen, musste man bei der - Ernte im September zunächst die Bienen aus den Stöcken trommeln oder sie ausräuchern. Oft gingen dabei die Völker verloren. Die Waben wurden entnommen, in Leinentücher gewickelt und in die Presse gegeben, der austretende Honig abgestrichen und das Wachs in Kesseln aus den Tüchern geschmolzen. | Die Imkerei wär eine Kunst, eine Kleinkunst im eigenen Garten Viele Pfarrer hielten Bienen, auch Küster und Schullehrer, und er- zeugten selbst die Süße für den - Tee? Den gab es in deutschen Gegenden so wenig wie Kaffee und Tabak. Doch hat man Honig in den Hypocras gerührt, einen besonders in Basel sehr beliebten roten Gewürzwein. Die weiße Entsprechung in Sachsen war der Claret und der in den Regionen um Hildesheim und Münster verbreitete Luttertrunk. Ein zeitgenössisches Münsteraner Rezept verlangte auf gut zehn Liter Wein knapp 1400 Gramm Zucker (!), dazu Wacholder und Zimt, Muskatblüte und Safran. Diese gern heiß getrunkene Spezialität hatte nichts mit dem Wittenberger Doktor zu tun. Der trank wie der »gemeine Deutsche« lieber Bier:
Brauen und Bier
Wer der Welt von Himmel und Hölle predigt, muss gut versorgt werden. Wer dem Nürnberger Rat die Welt auf eine Kugel malt, auch. Der Rat vermerkte »wein und pir, prot und anders dem Maler zu Mittag, dieweil der am Apfel malt«, am Globus des Martin Behaim. Bei diesem Bier kann es sich noch nicht um obergäriges Weißbier gehandelt haben, das schleppte erst Anfang der 1530er ein Antwerpener Atlashändler ein. Vielleicht war es ausschließlich aus Gerstenmalz gebrautes untergäriges Rotbier. Zeitreisende, die sich gern in Kellern herumtreiben, können nach der Besichtigung des Jahrtausendweins** in den Gewölben des Würzburger Bürgerspitals zu den Nürnberger Felsenkellern hinabsteigen. »Der Weg in die Geschichte«, wie es umstandslos heißt, ist wie der Ochsenweg von Wedel ausgeschildert. Bier gab es überall. Das Braurecht war in den deutschen Städten »Bürgerrecht« und den steuerpflichtigen Hausbesitzern mit Kellern vorbehalten. Es verschaffte den Hauseigentümern eine zusätzliche Einnahmequelle, dem Rat Steuern und den Käufern ein Getränk, das (meistens) sauberer war als nur dem Namen nach »reines«, unabgekochtes Wasser. Was die »Reinheit« des Biers betrifft, so ist sie — historisch betrachtet — trotz des Rummels, den man (vor allem in Bayern) alljährlich (seit 1995) am »Tag des Bieres« (23. April) darum macht, das Papier nicht wert, auf dem von ihr die Rede ist. Im April 1516 ließen die Herzöge von Bayern eine neue Landesverordnung drucken. Nur ein kurzer Abschnitt darin handelt vom Bier. Aber was sind 500 Jahre »Ablassthesen« im Oktober 2017 gegen 500 Jahre »Reinheitsgebot« im April 2016Genau genommen wurde der Terminus »Reinheitsgebot« vor 100 Jahren erfunden, nicht vor 500, und setzte sich erst in den 1950ern durch. Aber das ist eine andere Geschichte los überschätzten Vorschrift war es den Bayernherzögen vor allem um eine Vereinheitlichung der Landesregeln und um die Festsetzung allgemeiner Preisobergrenzen des Biers zu tun. Das eigentliche ‚Reinheitsgebot« bestand aus einem einzigen Satz: »Ganz besonders - wollen wir, daß forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.« Die »Gersten« schlossen das Gerstenmalz mit ein. Weizenbier wiederum entspricht nicht dem »Reinheitsgebot«, nicht deshalb, weil es »unrein« gewesen wäre, sondern weil die Verordnung mit der Beschränkung auf Gerste den Weizen und Roggen den BORN vorbehalten wollte. Die Nürnberger brauchten sich beim Brauen nicht um die bayerische Verordnung zu scheren. Die Stadt kam erst 1806 unter bayerische Landeshoheit. Warum übrigens die Hefe im Text der Verordnung nicht erwähnt wird, ist unklar. Jedenfalls wurde das Gärmittel zu jener Zeit bereits eingesetzt, auch wenn seine bakterielle Wirkungsweise noch
Zu den begehrtesten Bieren gehörten die in Hamburg, Bremen und Lübeck gebrauten. Diejenigen aus Zwickau mit seinen 273 brauberechtigten Bürgern (Stand 1521) waren eher gefürchtet. Das - Naumburger Bier indessen wurde vom alternden, ewig verstopften Luther als Abführmittel geschätzt. Keine drei Wochen vor seinem Tod schrieb er aus Eisleben an Katharina: »Es gefällt mir wohl, macht mir des Morgens wohl drei Stuhlgänge in drei Stunden.« Besonders legendär ist die Braunschweiger Mumme (für Lateiner: Mumma Brunsvicensium), und zwar so legendär, dass keine der Geschichten, die in der Braunschweiger Stadt- und Stadtführer-folklore erzählt werden, etwas mit der Geschichte zu tun hat, schon gar nicht die Rückführung auf einen ominösen Brauer Christian Mumme, den es mit hochprozentiger Wahrscheinlichkeit nie gegeben hat. »Mumme« war vielmehr eine Art Sortenbezeichnung für niedrigprozentiges, süßes, dickflüssiges Bier, das auch in anderen Städten und Regionen gebraut wurde. Das berühmteste Bier der Zeit war das im Wortsinn umwerfende Einbecker Starkbier. Der Rat der Stadt Wittenberg spendierte Luther zur | Hochzeit i im Jahr 1525 m. Fass. Er selbst bestellte i De | "zum Hochzeitsmahl eine Tonne »Torgisch Bier«, und zwar bei jenem Torgauer Brauer und Fuhrunternehmer, der nicht nur Bierfässer, sondern auch geflohene Nonnen, darunter Katharina, zu transportieren wusste. Das deutsche Bier aus der Zeit, als unser Deutsch erfunden wurde, verdarb schnell und roch nach dem Fass*. Ein Lagerbier hielt sich zwei Jahre und eignete sich deshalb besonders für den Export. Die übrigen Biere sollten nach dem Transport in andere Fässer um-und in rasch zu trinkende Flaschen abgefüllt werden. Die gewöhnlichen Leute tranken ohnehin lokales Bier, und zwar vor allem Dünnbier, auch »Kofent« genannt, eine trübe, wässrige Brühe, die so wenig Alkohol hatte, dass einem eher Bauch oder Blase geplatzt wäre als der Kopf von einem Kater. Dieses Dünnbier war das Grundnahrungsmittel unter den Getränken, nicht das tückische Wasser, das faulig aus den Zisternen, übel riechend aus den Brunnen und schmutzig aus den Flüssen kam und das durch die Röhren, die es in einigen Städten schon gab, sowie durch die Schöpfeimer und Bottiche zur Aufbewahrung nicht besser wurde. Sieben Jahre nach seiner Hochzeit mit etwas Einbecker und viel Torgauer Bier erhielt Luther (de facto Katharina) das Recht, Wittenberger Bier zu brauen. Das Braurecht war an das ehemalige Schwarze Kloster gebunden, das die Familie bewohnte und das der sächsische Kurfürst »seinem« Luther nun nicht mehr bloß zur Nutzung überließ, sondern als Besitz übereignete. In vielen Städten hatten viele Bürger das Braurecht, und wie in Zwickau war es auch in Wittenberg. Für das »>Zusammenbrauen« des Dünnbiers brauchte man weder Kunst noch Kessel. Die eine war nicht nötig, den anderen konnte man sich mit weiteren Gerätschaften bei der Stadt ausleihen. Katharina allerdings nutzte eigenes Gerät. Sie ließ Gerstenmalz in Bottichen mit warmem Wasser ansetzen und dann abseien, den Sud mit Hopfen kochen und danach mit Hefe zur Gärung bringen. Der aufquellende Schaum wurde abgeschöpft, das Bier nach 72 Stunden in kleine Fässer gegossen, in diesen Fässern die Kellerrampe hinabgerollt und dort in ein 1000-Liter-Fass umgefüllt. Darin ließ man es zehn Tage unberührt, damit es sich beruhigte, bevor es angezapft und nach und nach in kleine Küchenfässer gefüllt wurde, aus denen man die Trinkkannen füllte. Je nach Kühle des Kellers und der Jahreszeit blieb das Bier in einem großen Fass bis zu zwei Monate trinkbar. Es konnte passieren, dass einem das Bier ausging, wenn es im Fass verdarb oder wenn man mit dem Brauen nicht hinterherkam. Wurde nicht gebraut, spürten das sogar die Schweine. Sie kriegten dann die Rüssel nicht mehr voll mit Brauabfällen, die ihnen neben den Küchenresten »gereicht« wurden. Alles in allem muss Luther mit seiner Braumeisterin zufrieden gewesen sein. Im Juli 1534 klagte er aus Torgau in einem Brief an Käthe: »Gestern hatte ich einen bösen Trunk gefasset, da mußt ich singen: Trink ich nicht wohl, das ist mir leid, und tät’s so recht gerne. Und gedacht, wie gut Wein und Bier hab ich daheime, dazu eine schöne Frauen oder (sollt ich sagen) Herren.« Daran schloss sich die Bitte, er möge »eine Pfloschen Deines Biers« erhalten, wann immer es ihr möglich sei, eine zu schicken. Unterzeichnet: »Dein Liebchen« “In einem der köstlichen Reimchen des Alberus heißt es: »Mir ist in meinem Vatterlandt, / Ein feines Klösterlein bekanndt, / darinn drey mönch sind oder vier, / Die trincken wein und selten bier«. Das - ‚gemeine Volk: konnte nicht so wählerisch sein. Es säuft »unchristlich Wein, Bier und was es hat«, schrieb Sebastian Münster erzürnt und war sich mit der deutschen Rüge am deutschen Volk einig mit Humanisten und Moralisten, Kirchengläubigen und Reformatoren. Luther entrang sich bei Tisch der Stoßseufzer: »Wer das Bierbrauen erfunden hat, der ist ein Unheil für Deutschland gewesen.« Man- * Zur versuchsweisen »Rehabilitierung« der Epoche sei ein moderner Historiker zitiert: »Die Periode vom 14. bis zum 16. Jahrhundert war kein Saufzeitalter.